Erworbene Thrombophilie durch Krebs
Ludwig Lutz, München
Im klinischen Alltag muss man bei Krebspatienten in etwa 15 % mit einer thromboembolischen Komplikation rechnen. Bei bestimmten malignen Erkrankungen kommt es zu einer Inzidenz von bis zu 30 %. Die Thrombose ist mit all ihren Komplikationen als Begleiterscheinung bei Krebs so häufig, dass man regelrecht von einer Thrombophilie durch Krebs sprechen kann.
Tab.1. Inzidenz der Thromboambolie bei Karzinomen [4] |
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Krebs | Patienten mit thromboembolischen Ereignissen [%] |
Bronchialkarzinom Pankreaskarzinom Magenkarzinom Kolonkarzinom Gynäkologisches Malignom (Ovar/Uterus) Prostatakarzinom |
27,9 18,4 17,0 15,7 7,2
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In einer großen Sektionsstatisitik [5] bei 1 505 Obduktionen mit maligner Erkrankung innerhalb von fünf Jahren wiesen 607 Verstorbene entweder eine Venenthrombose, eine Lungenembolie oder beides auf (40,3 %). In einer Vergleichsgruppe ohne Malignom (2 720 Patienten) war nur bei 31,7 % ein thromboembolisches Ereignis nachweisbar. Dieser Unterschied ist statistisch signifikant (p < 0,01). Auch in dieser Mortalitätsbetrachtung sind bestimmte Karzinome überproportional vertreten (Tab. 2). Werden nur Veränderungen betrachtet, die für eine abgelaufene oder "ältere" Thromboembolie sprechen, ergibt sich eine deutlich niedrigere Inzidenz. Der Unterschied zwischen Patienten mit (11 %) und denen ohne Malignom (5 %) ist aber relativ noch höher (p < 0,005) als bei Betrachtung aller thromboembolischer Ereignisse. Obwohl Thrombose und Embolie ein Begleitphänomen der Phase der Agonie sind und es bei vielen Patienten unabhängig von ihrer Grunderkrankung präfinal zu thromboemboli-
Tab. 2. Überproportinale Inzidenz einer Thromboembolie bei Malignomen (Sektionsbefunde) [5] | |
Diagnose | Thrombose und/oder Embolie [%] |
Magenkarzinom Kolorektales Karzinom Malignes Melanom Pankreaskarzinom Hypernephrom Ovarialkarzinom Gallenblasen-/ Gallengangskarzinom Korpuskarzinom des Uterus Bronchialkarzinorg Portiokarzinom HNO-Karzinom Alle Malignome zusammen |
58 50 50 49 48 48 46
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Pathophysiologie
Pathophysiologisch gesehen gilt selbstverständlich auch für die Thromboseneigung bei malignen Erkrankungen die Virchow'sche Trias (Abb. 1). Die einzelnen Kausalfaktoren wirken bei Krebspatienten genauso zusammen wie bei anderen Kranken, werden aber verstärkt durch zusätzliche prokoagulatorische Vorgänge, die direkt von der malignen Zelle in Gang gebracht werden (s. später).
Tab. 3. Mögliche Anteile des Endothels an der Thrombophilie durch Krebs (Auswahl) |
Direkte Endothelläsion Zentralvenöser Katheter Chemotherapie Tumorinfiltration Prothrombotische Endotheldysfunktion Zytokine Expressinn von Tissue Factor Thrombomodulin-Veränderung Plasminogenaktivator-Inhibitor |
Gefäßwand
Schädigungen des Endothels (Tab. 3) bei Krebs sind abgesehen von mechanischer Läsion durch zentralvenöse Katheter in erster Linie medikamentös-toxisch bedingt. Bei einer Vielzahl von Zytostatika sind Endothelschädigungen beschrieben [6]: zum Beispiel sind Mitomycin C, Cisplatin, Bleomycin, Fluorouracil und DTIC Substanzen, von denen schon lange bekannt ist, dass sie eine medikamentös toxische Endothelschädigung verursachen können [6]. Auch allergische immunkomplexvermittelte Reaktionen sind beschrieben, zum Beispiel nach Mitomycin C, als deren Maximalvariante die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (Moschcowitz) betrachtet werden kann [7].
Zentralvenöse Zugänge, insbesondere auch venöse Portsysteme weisen das Risiko so genannter katheterassoziierter Thrombosen auf. Dabei ist bei gleichzeitiger Chemotherapie, insbesondere Hochdosis-Chemotherapie die Inzidenz nochmals überproportional höher [8]. Auf die direkte oder indirekte Induktion einer prothrombotischen Endotheldysfunktion durch die malignen Zellen wird später ausführlicher eingegangen.
Blutströmung
Innerhalb der Virchow'schen Trias spielt der gestörte Blutfluss eine im klinischen Alltag außerordentlich wichtige Rolle. Natürlich treten klinische Umstände, bei denen mit einer Verlangsamung der Blutströmung oder Wirbelbildung zu rechnen ist, bei Krebspatienten immer wieder auf. Bei der venösen Stase (Tab. 4), zum Beispiel durch Immobilisation oder den Venenabfluss behindernde Tumoren, wird vor allem ein bereits
Tab. 4. Beispiele für Veränderung der Blutströmung |
Venöse Stase Kompression (Tumor oder Lymphom) Tumorinfiltration Immobilisation Lymphstau Postthrombotisches Syndrom Variköser Symptomenkomplex |
bestehendes Risiko im Sinne der multifaktoriellen Pathophysiologie der Phlebothrombose potenziert, wie es von der postoperativen Phase her, aber eben gerade auch bei Krebspatienten hinlänglich bekannt ist. Das postthrombotische Syndrom birgt ein von Hause aus erhöhtes Thromboserisiko in sich, das bei Krebspatienten potenziert wird.
Blutzusammensetzung
Der dritte Punkt der Virchow'schen Trias betrifft die Blutzusammensetzung (Tab. 5), wobei der Zustand der Hyperkoagulabilität im Sinne einer thrombophilen Diathese gemeint ist.
Eine Operation erzeugt einen hyperkoagulabilen Zustand unter anderem über eine Einschwemmung von Gewebsfaktor (Tissue Factor, Gewebs-Thromboplastin). Maligne Zellen können von sich aus Tissue Factor, aber auch andere Prokoagulanzien exprimieren und dadurch eine thrombotische Diathese induzieren.
Tab. 5. Mögliche Ursachen für Blutveränderungen bei Krebs (Hyperkoagulabilität) |
Hereditäre Thrombophilie Tumorkoagulanzien Thrombozytenaktivierung Exsikkose Inhibitorenmangel (Antithrombin, Protein S, Protein C) Erhöhung von Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI) Akute-Phase-Reaktion (z. B. Fibrinogenerhöhung) |
Thrombusbildung und Metastasierung - eine gemeinsame Endstrecke
Hereditäre Thrombophilien und Thromboseneigung bei Krebs
Die Punktmutation im Faktor-V-Gen (Faktor-V-Leiden), die in mindestens 80 % der Fälle für die so genannte APC-Resistenz verantwortlich ist, kommt doch immerhin bei 5 % der Normalbevölkerung vor [12]. Deshalb hat diese Punktmutation vermutlich auch im Zusammenhang mit Krebserkrankungen eine Bedeutung, da das Verhältnis pro- und antikoagulatorischer Reaktionen zugunsten der Gerinnung verschoben wird. Antithrombin III (AT III), dessen Mangel als erster familiärer Inhibitormangel beschrieben wurde, ist ein endogener Inhibitor des Thrombin, es gehört zur Gruppe der so genannten Serpine (SERine Proteinase INhibitors). Antithrombin bildet mit Thrombin inaktivierende Komplexe, deren Formation durch die Anwesenheit von Heparin erheblich beschleunigt wird. Zu beachten ist, dass dieses Antithrombin nicht nur mit Thrombin und mit dem Faktor Xa, sondern auch mit dem Kinin-Kallikrein-System interagiert, das bereits in Zusammenhang mit Entzündung angesprochen wurde. Interessant in diesem Zusammenhang erscheint die Beobachtung, dass die antihormonelle Therapie, zum Beispiel mit Tamoxifen , einen Pseudo-AT-III-Mangel bewirkt [13]. Möglicherweise liegt hier einer der Schlüssel für das Thromboserisiko bei Tamoxifen-Therapie. Alle anderen angeborenen Inhibitormangelzustände sind so selten, dass sie für die Thromboseinzidenz bei Krebspatienten eigentlich keine bedeutende Rolle spielen können. Die Bedeutung angeborener vermehrter Gerinnungsaktivierung wie der Polymorphismus im Prothrombingen (Prothrombinvariante G20210A) oder auch die hereditäre Hyperhomozysteinämie (z. B. MTHFR TT677 Genotyp) ist noch schwerer abzuschätzen, weil es außer bei Leukämie [14] keine systematischen Untersuchungen bei Krebspatient gibt.
Erworbene Thrombophilie durch Krebs
Oberflächenaktivierung der Gerinnung
Die Rolle der malignen Zelle
Es sind noch andere prokoagulatorische Prinzipien bei Krebszellen wie zum Beispiel die Expressinn eines Faktor-V-Rezeptors nachgewiesen, diese sind jedoch viel seltener.
Die Tatsache, dass - wie bereits beschrieben - malignes Wachstum auch immer mit Zell-Zell-Interaktionen einhergeht, verstärkt weiterhin eher die Gerinnungsneigung. In diesem Zusammenhang spielt die Sekretion eines Peptids eine Rolle, das als "Vascular permeability factor" bezeichnet wird. Einerseits fördert dieses Peptid die Mikropermeabilität, die in wachsenden Tumoren nachweisbar ist, andererseits induziert es Monozyten-Aktivierung und Chemotaxis durch die Endothelschicht [10]. So kommt es über diese Aktivierung des Monozyten-Makrophagen-Systems zur zusätzlichen Expressinn von Tissue Factor und Zytokinen. Parallel entwickelt sich eine Steigerung der Adhäsivität und Aggregabilität von Thrombozyten, die der malignen Zelle auf diese Weise regelrecht zuarbeiten.
Antithrombotische Aktivitäten der Tumorzelle
Interessanterweise sprechen viele Untersuchungen für eine prognostische Relevanz der Interaktion mit der Fibrinolyse. So ist beim Mammakarzinom die Zelle wohl biologisch umso aggressiver, je mehr Urokinase-like-PlasminogenAktivator (u-PA) und je mehr Plasminogenaktivator-Inhibitor (PAI) gebildet wird. Auch für den Rezeptor der u-PA (u-PAR) scheint diese Korrelation zu bestehen. Normalerweise müssten die eben beschriebenen Aktivitäten der malignen Zelle eine Hyperfibrinolyse induzieren, also eigentlich müsste die Thromboseneigung durch die Krebszelle sozusagen selbst limitiert werden. Möglicherweise reduzieren die Tumoren über die Expression des Plasminogenaktivator-Rezeptors die proteolytischen Aktivitäten in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, so dass es nicht zu einer systemischen Hyperfibrinolyse kommt [17].
Klinische Konsequenzen
Tab. 6. Trousseau-Syndrom [18-20] |
Thrombophlebitis migrans et saltans Nicht bakterielle thrombotische Endokarditis Arterielle digitale und zerebrale Thromben Thrombose der Leber-, Portal- und Mesenterialvenen Bein-, Beckenvenenthrombose bei Malignom Hals-Arm-Venenthrombose Thromboserezidiv unter oraler Antikoagulation |
Auch die nichtbakterielle thrombotische Endokarditis ist eine seltene Erscheinung, aber möglicherweise nur deswegen, weil sie nicht erkannt wird. Sie betrifft hauptsächlich Mitral- und Aortenklappe und stellt eine Quelle für eine arterielle Embolie dar [12]. Lebervenen-, Portal- oder Mesenterialvenenthrombosen sind ebenfalls überproportional häufig mit Malignomen, insbesondere auch mit myeloproliferativen Erkrankungen vergesellschaftet. Die tiefe Beinvenenthrombose mit und ohne Lungenembolie ist sicher die häufigste thrombotische Komplikation von malignen Erkrankungen, wobei das Rezidiv unter ausreichender oraler Antikoagulation auch zum so genannten Trousseau-Syndrom gezählt wird. Natürlich spielt für die Inzidenz der Phlebothrombose im Rahmen maligner Erkrankungen auch die Tatsache eine Rolle, dass Krebs im Alter gehäuft auftritt. Heutzutage muss das hepatische Venenverschlusssyndrom (veno-occlusive disease, VOD) bei der Hochdosis-Chemotherapie mit vor allem allogener, aber auch autologer Knochenmarks- oder Stammzelltransplantation in die Liste der malignomassoziierten thrombotischen Komplikationen aufgenommen werden [22].
Die so genannten katheterassoziierten Thrombosen sind bei Krebspatienten auch als eine Komplikation der Thrombophilie durch Krebs zu sehen, deren Häufigkeit unter Chemotherapie, vor allem aber bei kontinuierlicher Infusionschemotherapie von 24 Stunden oder mehr klinisch durchaus relevant ist [8].
Medikamentöse Antikoagulation und Krebs
Unfraktioniertes oder niedermolekulares Heparin stellen die Antikoagulanzien der Wahl dar für Krebspatienten, die sich einer chirurgischen Behandlung unterziehen müssen [10]. Es gibt sogar Beobachtungen, dass Krebspatienten, die wegen einer tiefen Beinvenenthrombose mit Antikoagulanzien behandelt werden müssen, eine reduzierte Krebsletalität zeigen [24]. Im Gegensatz zur perioperativen Prophylaxe ist die Frage, welche Krebspatienten in welcher klinischen Situation eine medikamentöse Thromboseprophylaxe benötigen, noch nicht mit ausreichender Evidenz zu beantworten. Völlig unbestritten sind lediglich die perioperative Einstufung von Krebspatienten in die Hochrisikogruppe [25] und die Langzeitantikoagulation bei Patienten mit malignen Erkrankungen, die während ihrer Erkrankung bereits eine thromboembolische Komplikation durchgemacht haben [26].
Literatur
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11. Dvorak HF. Thrombosis and cancer. Hum I thol 1987;18:275-84.
12. De Stefano V, Finazzi G, Mannucci PM. Inl rited thrombophilia: pathogenesis, clinic syndromes and management. Blood 1996;1 3531-44.
13. Schmitt M, Kuhn W, Harbeck N, Graeff Thrombophilic state in breast cancer. Sem Thromb Hemost 1999;25:157-66.
14. Nowak-Göttl U, Wermes C, Junker R, Koch HG, et al. Prospective evaluation of the thrombotic risk in children with acute lymphoblastic leukemia carrying the TT677 genotype, the prothrombin G20210A variant, and further prothrombotic risk factors. Blood 1999;93 1595-9.
15. Zurborn KH, Bruhn HD. Hämostasestörung bei Tumorerkrankungen. In: Zeller WJ, zur Hausen H, Hrsg. Onkologie Bd I. Landsberg Ecomed, 1996:VII-4:1-11.
16. Witt I. Tissue-factor-pathway-Inhibitor: Biochemie, Molekularbiologie, Physiologie und Pathophysiologie. In: Müller-Berghaus G. Pötzsch B, Hrsg. Hämostaseologie. Berlin; Springer-Verlag, 1999:360-6.
17. Carroll VA, Binder BR. The role of plasminogen activation system in cancer. Sem Thromb Heurost 1999;25:183-97.
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27. Lutz LL. Krebs als thrombophiler Zustand. In: Lutz LL. Thrombophilie und niedermolekulare Heparine. 2. Aufl. München: Urban & Vogel, 2001:66-7 (Medizin & Wissen)
Verfasser: Dr Ludwig Lutz
Stätdisches Krankenhaus München-Harlaching
4. Medizinische Abteilung
Sanatoriumsplatz 2, 81545 München